Die Sucht zu sammeln

Auf 125 Quadratmetern hat Stephan Watrin ein Museum des Sperrmülls eingerichtet.

Zu Beginn findet man ihn völlig verrückt. So wie dieser Mann stolz durch seine Wohnung läuft, die voll von Dingen ist, die jeder andere wegwerfen würde. Auf einer der wenigen Freiflächen im Wohnzimmer setzt er sich schließlich auf den Fußboden und zündet eine Zigarette an. "Viele Leute sind hier schon völlig entsetzt wieder rausgerannt", sagt er. "Einige sind aber auch fasziniert."

Auf 125 Quadratmetern am Hamburger Schulterblatt stapelt Stephan Watrin alles, was ihm wertvoll erscheint: Spazierstöcke, Nähmaschinen, Spielzeugautos, Puppen, Klospülungen, Spiegel, Lederkoffer, Schuhe, Werbefiguren, Knochen. Sorgfältig geordnet hängen Pappteller mit Weihnachtsmotiven an den Wänden, über den Türen wachen Rehgeweihe und von den Decken ragen Schlangenhäute und ausgestopfte Krokodile in die Räume hinab.

Jeden dieser Gegenstände hält Stephan Watrin für etwas ganz Besonderes, ob Kitschbild oder antiken Kronleuchter. Der 53- Jährige will den Müll anderer Menschen vor dem Untergang retten. Ein Spinner, ein armer Irrer? Dieser erste Eindruck ändert sich, wenn man mit Stephan Watrin ins Gespräch kommt. Durchaus selbstkritisch beschreibt er seine Sammelwut. "'Ne Sucht ist das schon", sagt er. "Wahrscheinlich suche ich Ersatz für irgendetwas - oder will mir ein Stück Kindheit bewahren."

Psychologen würden ihn als "Messie" titulieren. Das Wort ist die Verkleinerungsform von "mess" (englisch für Chaos, Unordnung, Schwierigkeit). Dieses Syndrom des Sammelns, Hortens, Nicht-Wegwerfens kann bis zur Vermüllung der eigenen Wohnung führen. Doch zu diesem Extrem ist es bei Stephan Watrin noch nicht gekommen.
Angefangen hat alles vor 30 Jahren mit einer ganz normalen Schreibmaschine. Das Stück erstand Stephan Watrin von einem ehemaligen Auszubildenden seines Vaters. "Sie hat mir einfach gut gefallen und ich dachte: Die musst du haben." Danach ging es weiter, seltene Werbefiguren aus allen Jahrzehnten wurden zum bevorzugten Sammelobjekt. 300 bis 600 Euro würden diese heute wert sein. Besonders stolz ist Watrin auf einen Mercedes-Aschenbecher aus den 20er Jahren. "Mein Lieblingsstück", sagt er.

Einige Meter neben dem Aschenbecher steht versteckt hinter kleinen Lampen und Drahtverzierungen eine weitere skurrile Rarität: ein echtes Skelett, genannt Fridolin. "Das hat mir ein älteres Ehepaar geschenkt. Die beiden haben sich deshalb ständig gestritten, weil ihr Hund immer die Füße anknabberte." Auch vor der Küche macht die Sammelmanie keinen Halt. Selbst der Kühlschrank ist voll mit kleinen Figuren, Schildern und anderem Kleinkram. "Ich habe seit Jahren nicht mehr gekocht", erklärt der Sammler. "Mein Essen hole ich mir vom Bäcker oder gehe in ein Bistro um die Ecke."

Wie viele Dinge Stephan Watrin im Laufe der Zeit angesammelt hat, wagt er nicht zu schätzen. Das Staubwischen in einem der insgesamt sechs Zimmer dauert jedenfalls etwa zwei Tage. Helfen kann ihm dabei niemand. Sammelsucht macht einsam. Vor zehn Jahren ließ sich seine Frau von ihm scheiden. "Sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten", sagt Watrin. "Das Sammeln bestimmt mein Leben. Da ist für einen anderen Menschen kein Platz mehr." Geblieben sind ihm nur seine Haustiere, die in einer Vitrine im Schlafzimmer Unterschlupf gefunden haben. Die noch kleinen Pythons, die Kettennatter und die weißen Mäuse scheint das Chaos um sie herum nicht zu stören.

In extremen Phasen waren für Stephan Watrin alle Wochenenden für Flohmarkt-Besuche reserviert. Akribisch durchstöberte er jeden einzelnen Stand auf der Suche nach neuen Dingen für die Wohnung. "Manchmal habe ich ein ganz bestimmtes Stück im Kopf. Wenn dieses dann nicht zu bekommen ist, werde ich leicht gestresst und frustriert", erklärt er. Sammeln, das ist für Stephan Watrin "haben wollen, besitzen wollen".
Finanziell hat ihn diese Sucht ruiniert. Bis zu 2000 Euro hat er dafür im Monat ausgegeben. Ohne die Unterstützung seiner Familie würde er nur schwer über die Runden kommen. Seit anderthalb Jahren ist der ausgebildete Erzieher arbeitslos. Das exzessive Sammeln musste gezwungenermaßen aufhören und Geld hat Stephan Watrin jetzt nur noch für günstige Einzelstücke.

Einen Ersatz für das Sammeln hat er jedoch bereits gefunden. Kunst mit Draht heißt seine neue Leidenschaft. Anstatt die angehäuften Dinge in seiner Wohnung einfach nur aufzustellen, will Stephan Watrin sie nun miteinander verbinden. Dabei entstehen für ihn neue Kunstwerke, die er in einer eigenen Galerie am Schulterblatt ausstellt. "Ich bin stolz auf meine Fundstücke. Ein Maler freut sich doch auch darüber, seine Bilder den Leuten präsentieren zu können, oder?"

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